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Die Plattnasen-Tragödie: Haben-Will frisst Hirn!

Ein Freund und Admin einer großen Hundegruppe hat sich neulich mal die Mühe gemacht, die Neuanmeldungszahlen des Tasso-Haustierregisters für das Jahr 2018 den offiziellen VDH-Welpenzahlen gegenüber zu stellen.

Auf Platz 5 der Tasso-Statistik finden wir die Französische Bulldogge mit 11203 Neuanmeldungen. Der grauenhafte Trend, mit einer der schlimmsten Qualzuchtrassen aller Zeiten an der Leine durch die Gegend zu laufen, ist also leider ungebrochen. Diese Tatsache wird in ihrer Dramatik allenfalls dadurch übertroffen, dass diesen 11203 Neuanmeldungen gerade mal 154 (1,37 Prozent!) offiziell bei VDH-Züchtern geborene Frenchie-Welpen gegenüber stehen.

Wenn wir mal mit Fug und Recht unterstellen, dass sich hinter den Tasso-Zahlen noch eine beträchtliche Dunkelziffer verbirgt, könnten allein 2018 geschätzt bis zu 20000 Französische Bulldoggen neu angeschafft worden sein. 99 Prozent der in Deutschland aktuell rumlaufenden Franzosen stammen also ganz offensichtlich von Dissidenzzüchtern, von Vermehrern (die sich sicher zum größten Teil auch wohlklingend als Dissidenzzüchter bezeichnen) und aus dem illegalen Welpenhandel. An jedem beliebigen Tag kann man auf Ebay zwischen 700 und 1000 Anzeigen für Franzosen finden, und die gehen trotz all der frommen Sprüche gegen Vermehrer und illegalen Welpenhandel weg wie warme Semmeln.

Und genau diese Tatsache ist der Grund, warum die oft gehörte Forderung, dass sich an der Zucht der Plattnasen etwas ändern müsse, völlig unrealistisch ist. Ich sehe nicht die geringste Chance auf züchterische Veränderungen. Glaubt wirklich jemand ernsthaft, dass sich die ganze Vermehrer-Mischpoke einen feuchten Kehricht für züchterische Veränderungen interessiert, so lange ihnen ihre „Produkte“ von einer Haben-Will-Gesellschaft buchstäblich aus den Händen gerissen werden? Für die im VDH organisierten Plattnasenzüchter gilt das übrigens ganz genau so. Auf jeder beliebigen VDH-/FCI-Show kann man sehen, dass nach wie vor und ohne ein Anzeichen für irgendein Umdenken völlig übertypisierte und eigentlich nicht mal mehr dem eigenen Zuchtstandard entsprechende Hunde zu Siegern erklärt werden.

Genau so sinnlos ist der Ruf nach Zuchtverboten für Bulldogge und Mops. Gut, man würde damit zwar ein Zeichen setzen, aber mehr wäre das letztendlich auch nicht, weil ein nationales Zuchtverbot nur dazu führen würde, dass der zweifellos vorhandene Bedarf dann halt in noch größerem Umfang von ausländischen Puppy Mills befriedigt wird, deren Betreiber sich darüber erfreut die Hände reiben könnten.

Nein, weder (sowieso rein hypothetische und mit dem vorhandenen genetischen Material eigentlich nicht mehr machbare!) züchterische Veränderungen noch ein Zuchtverbot können auch nur das Geringste ändern an der aktuellen Situation, die man nur als eine der größten Tierschutzkatastrophen aller Zeiten im Hundebereich bezeichnen kann. Und wer ist schuld an dieser Katastrophe? Die Züchter? Die Vermehrer? Nein, einzig und allein die „Verbraucher“, die Käufer von Qualzuchtwelpen, die Fans dieser Rassen, sind verantwortlich, und zwar in vollem Umfang, denn sie erzeugen die immense Nachfrage, die von den Vermehrern über höchst zweifelhafte Kanäle wie Ebay befriedigt wird.

Jeder Besitzer, jeder Welpenkäufer, jeder Interessent wird sich in Zukunft Fragen stellen oder auch gefallen lassen müssen:

– Kann man sich guten Gewissens einen Hund einer Rasse anschaffen, bei der weit mehr als die Hälfte der Welpen von uns Tierärzten per Kaiserschnitt auf die Welt geholt werden muss, also einer Rasse, die es ohne die moderne Tiermedizin tatsächlich gar nicht mehr gäbe?

– Kann man sich guten Gewissens einen Hund anschaffen, dem zur Erreichung eines bestimmten Aussehens (Oh-wie-süß-Kindchenschema!) die einwandfreie Atmungsfähigkeit, die Thermoregulation und eine funktionelle Wirbelsäule buchstäblich weggezüchtet wurden? Wohl gemerkt: Wir reden von einem Hund, also einem Hetzjäger, einem Hochleistungsläufer!

– Kann man sich guten Gewissens einen Hund anschaffen, der wie der Mops von vornherein (und natürlich zusätzlich zu allen anderen Problemen) derartig hohe Gesichtsfalten hat, dass diese ständig entzündet sind und sich von unten in das Sichtfeld schieben, so dass er beim Laufen meist den letzten halben Meter vor seinen Pfoten gar nicht mehr sehen kann?

– Wie allgemein bekannt sein sollte, gibt es inzwischen immer weiter verfeinerte chirurgische Verfahren, mit denen man das Leiden atmungsbehinderter Plattnasen zwar nicht vollständig beseitigen, aber doch ein Stück weit lindern kann. Trotzdem: Back to basics, please! Kann man sich guten Gewissens einen Hund anschaffen, bei dem von vornherein eine extrem hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass man ihn erst mal chirurgisch zurecht schnitzen muss, um ihm eine auch nur halbwegs artgerechte Existenz zu ermöglichen? Dieser letzten grundlegenden Frage entgeht man auch nicht durch die leider weit verbreitete und inzwischen sogar wissenschaftlich bestätigte Wahrnehmungsstörung vieler Plattnasen-Besitzer, die einfach die Augen vor den Behinderungen und Leiden ihrer Tiere verschließen und ihnen, sozusagen als Gipfel der Empathielosigkeit, auf dieser Basis jeden lindernden Eingriff verweigern.

– Kann man sich guten Gewissens Hunde anschaffen, die als buchstäbliche Anhäufung von Qualzuchtmerkmalen bezeichnet werden müssen, und das nur deshalb, weil ein bestimmtes Aussehen angestrebt wird? Englischsprachige Tierschützer und Tierärzte verwenden dafür die Bezeichnung „Torture Breeding“ (Folterzucht)!

Ist das alles akzeptabel? Ist das noch irgendwie zu rechtfertigen?

Schaltet man sein Hirn ein, dann doch wohl auf gar keinen Fall, oder? Man fragt sich vielmehr, ob das alles noch wahr sein kann. Über 11 Jahre nach Jemima Harrisons berühmter BBC-Doku „Pedigree Dogs Exposed“, die man als den Wendepunkt markieren kann, ab dem eigentlich niemand mehr ernsthaft behaupten konnte, er hätte von nichts gewusst, nach über 10 Jahren unermüdlicher und immer drastischerer Aufklärung von Seiten der internationalen Tierärzteschaft, erreichen die Meldezahlen für Plattnasen trotzdem jedes Jahr neue Höhepunkte.

Was ist denn bloß faul mit uns Menschen? Warum sind wir derartig ignorant, gemein und pervers, dass wir unserem angeblich „besten Freund“ unter den Tieren, unseren „Fellnasen“, unseren „Mäuschen“, unseren „Engeln auf vier Pfoten“ ungerührt und kalt lächelnd so etwas antun, nur, weil uns dieses Aussehen gefällt, das mit einem Hundegesicht, wie es die Evolution wollte, rein gar nichts mehr zu tun hat, oder weil wir den (so tapfer leidenden!) Charakter der betroffenen Rassen so toll finden? Ich stimme ja zu, viele Bulldoggen und Möpse sind ausgesprochen sympathische Hunde, aber das kann doch um Himmelswillen keine Rechtfertigung sein, ihnen das alles zuzumuten!

Bitte! Wir haben schließlich eine ziemlich dicke Hirnrinde, mit der wir DENKEN können, wenn wir es nur wollen! Und wir sprechen hier – wie schon gesagt – von einer echten Tierschutzkatastrophe, mitten unter uns selbsternannten Hundefans. An dieser Katastrophe wird sich nichts ändern, so lange wir unsere Augen vor dem millionenfachen Leid der Plattnasen verschließen.

Als ich vor einigen Monaten mit der ARD-Journalistin Melanie Boeff für ihre Doku „Das große Versagen: Qualzucht bei Hunden“ auf der Hundeschau in Leipzig unterwegs war, haben wir den ganzen Tag wahllos Leute mit Franzosen und Möpsen interviewt. Keiner hat das eigentlich offensichtliche Leiden seines Tieres auch nur als solches anerkannt! Spricht man das Thema in Hundegruppen und -foren an, wird einem erst mal von allen Seiten versichert, dass der jeweils eigene Plattnasen-Hund total „frei atmend“ wäre und stundenlang wahlweise neben dem Pferd, dem Fahrrad oder dem Ferrari unterwegs wäre, so dass man sich als Tierarzt unweigerlich fragt, woher die ganzen Brachycephalen stammen, die man in den letzten Jahren operiert hat und wer genau die Abnehmer der unzähligen Ebay-Welpen eigentlich sind. Dann wird unweigerlich kommentiert in dem Sinne „Ja, Aufklärung sollte schon betrieben werden, aber man muss doch auch mal wieder Ruhe geben mit diesem Thema!“. Folgt man diesen selbstgerechten Anregungen nicht, kommt es abschließend gern unter heftigem virtuellen Türenschlagen zu einem Exodus der PlattnasenhalterInnen. Man hält sich also einfach die Augen zu, steckt sich die Zeigefinger in die Ohren und singt ganz laut Lalala, damit man weiter schön ungestört in seiner realitätsverweigernden Blase leben kann und erst gar nicht wahrnehmen muss, wie beschissen es dem eigenen Hund geht.

Allein die Betonung des Begriffs „frei atmend“, also eigentlich einer absoluten Selbstverständlichkeit, offenbart ja die ganze Perversion der Plattnasenzucht. Was soll ein Lebewesen und ganz besonders ein Hetzjäger denn anderes sein als frei atmend??? Davon abgesehen: Mit dieser völlig abnormen Kopfform kann es keine wirklich freie Atmung und keine funktionierende Thermoregulation geben, basta! Das ist anatomisch einfach nicht möglich!

Oder nehmen wir die Wirbelsäule. Ich hoffe, dass sich jeder Bulldoggenhalter darüber im Klaren ist, was der typische und von vielen als so normal wahrgenommene Korkenzieher-Stummelschwanz wirklich ist, nämlich eine schlimme Missbildung, die sich auch im Rest der Wirbelsäule in Form von Keil- bzw- Schmetterlingswirbeln bemerkbar macht. Das wirkt sich insofern dramatisch aus, als dass keine andere Rasse so früh so schlimme Bandscheibenvorfälle bekommen kann wie die Französische Bulldogge. Drei bis sechs Keilwirbel erscheinen Züchtern und Vermehrern heutzutage wohl als akzeptabel, wenn sie ihre Gebär- und Deckmaschinen denn überhaupt je röntgen lassen. Wohl gemerkt: Fände man beispielsweise bei einem Terrier oder bei einem Border Collie mit Rückenbeschwerden auch nur einen Keilwirbel, würde man mit den Armen wedelnd panisch im Kreis rumrennen und sich verzweifelt fragen, was man denn jetzt machen soll!

Also: Bitte, bitte, bitte! Wir Menschen müssen im Interesse dieser Hunde raus aus unserer letztendlich scheinheiligen Realitätsverweigerung und wir müssen endlich das Sofort-Haben-Wollen zugunsten des rationalen Denkens sauber unterdrücken! Der Hype muss dort gestoppt werden, wo er entsteht, also beim Verbraucher. Mit einem Frenchie oder Mops an der Leine rumzulaufen muss am Ende leider genau so anrüchig sein wie das Tragen eines Nerzmantels. Ich wünsche mir mit aller Kraft BesitzerInnen von Plattnasen, die ihrem aktuellen Hund ein möglichst gutes Leben ermöglichen, auch und gerade durch die meist erforderlichen chirurgischen Eingriffe, die sich aber auch sagen: Nein, so geht das einfach nicht, ich will für dieses massenhafte Elend nicht mal ansatzweise mit verantwortlich sein, also nie, nie wieder!

Vor ziemlich genau 120 Jahren schrieb Rudyard Kipling vom Beginn unserer Freundschaft mit dem Hund:

„When the Man waked up he said, ‚What is Wild Dog doing here?‘ And the Woman said, ‚His name is not Wild Dog any more, but the First Friend, because he will be our friend for always and always and always.'“

Und nun seht hin, wie schmählich wir Menschen diese Freundschaft verraten und was wir unserem „First Friend“, unserem ersten Freund unter den Tieren, in diesen 120 Jahren angetan haben! Aus einer schlechten Haltung kann man einen Hund jederzeit befreien, im Gefängnis eines völlig kaputt gezüchteten Körper aber bleibt er sein Leben lang gefangen! Seht endlich hin und erkennt unsere Schuld, die sich natürlich nicht nur auf die brachycephalen Rassen erstreckt, aber in ihnen einen schrecklichen Höhepunkt erreicht!

Hier noch der Link zu meinem früheren Artikel (November 2017) zu diesem Thema: „Bully-Bashing, oder: Die Qualzuchtrassen Französische Bulldogge, Englische Bulldogge und Mops“, in dem Sie (ganz unten) weitere interessante Links finden können.

Ein Postskriptum: Wenn ich mich in Artikeln und Kommentaren zu diesem Thema in dieser Form äußere, fragen sich manche Plattnasenhalter, die auch Kunden meiner Praxis sind, ob sie bei uns mit ihrem Hund noch willkommen sind. Ja, sind sie! Diese Hunde verdienen schon allein aufgrund ihrer von uns Menschen zu verantwortenden Einschränkungen alles, was wir für sie tun können.

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert